Hans Lesser, ein enttäuschter Frohnauer

Der Name Lesser ist in Frohnau wohlbekannt. Schließlich gibt es in der Gartenstadt einen Ludwig-Lesser-Park. Und die Hiesi­gen wis­sen aus Broschüren und Vorträgen, dass Ludwig Lesser Deutsch­lands erster freischaffender Gartenarchitekt war, der unserem Ort im Auftrage von Donnersmarcks Berliner Ter­rain-Centrale sein unverwechselbares Gesicht gegeben hat.

Hans Lesser, Ludwigs Halbbruder und Sohn des Buchhändlers Ri­chard Lesser aus zweiter Ehe, ist etwas in Vergessenheit gera­ten. Hans wurde Frohnauer und wohnte in der Hohenheimer Straße 10. Er blieb bei seines Vaters Leisten und wandte sich ebenfalls dem Buchhandel zu. Außerdem gründete er einen eigenen Verlag, in dem vorwiegend religiöse Literatur erschien, darunter im Jahre 1912 eine wunderbare Familienbibel, die heute teuer gehandelt wird. Zum Beispiel kann man sie für 480 Euro in einem Stuttgarter Antiquariat erwerben. Der hohe Preis ist durchaus gerechtfertigt, denn die Bibel enthält 222 ganzseitige Illustrationen von dem be­rühmten französischen Textillustrator Gustave Doré.

Die Lessers waren Juden, jedoch trat Richard mit seiner zwei­ten Ehefrau Anna zum Christentum über. Auch die Kinder aus erster und zweiter Ehe wurden evangelisch getauft. Hans war evangeli­scher Christ mit Leib und Seele, und so ist er den an der Geschichte der Johanneskirche Interessierten kein Un­bekannter. Sein Name taucht zum Beispiel in der Jubiläums­schrift zum 75. Jahrestag der Gründung Frohnaus, und zwar im Kapitel „Frohnauer Gemeindeleben in der Zeit des Natio­nalsozia­lismus“ auf. Aber auch in Avigdor Ben-Trojans Buch „Liebe Grüße an Frl. Ilse, Jüdische Spurensuche in Reinicken­dorf“ (Berlin, Haifa 2000) wird auf sein Schicksal hingewiesen. Zuletzt erinnerte die Ju­biläumsschrift „Hundert Jahre Garten­stadt Frohnau“, Hrsg. Peter Jochen Winters, an sein Schicksal.

Lessers Name im Zusammenhang mit der Kapitel­überschrift „Frohnauer Gemeindeleben in der Zeit des Nationalsozialis­mus“ macht schnell klar, worum es geht. Christen jüdischer Herkunft wur­den ebenso verfolgt wie Juden; da machten die „Nürnberger Gesetze“ keinen Unterschied. Obwohl Hans Les­ser engagierter Christ war, Mitglied der kirchlichen Gemeinde­vertretung, Leiter des Bibel­kreises der Johanneskirche und zeitweiliges Mit­glied der Bekennenden Kirche, „schaltete“ die Gemeinde den ernsten Christen schließlich „aus“, wie seine Tochter Ruth in ihren Erinnerungen schreibt.

Leider gibt es Indizien, dass die unerwartete und erschreckende Aussage der Tochter durchaus ge­rechtfertigt ist. Nach den von den NS-Behörden angeordneten Neuwahlen der kirchlichen Gremien vom Juli 1933 tauchte der Name Hans Lessers, der noch 1932 Mitglied der kirchlichen Gemeindever­tretung war, bei den Wahlergebnissen nicht mehr auf; im Gemeindekir­chenrat rückten die führenden Frohnauer Nazis, der Reinic­kendorfer Stadtrat Fritz Tillmann und der Diplomingenieur Karl Dörffel, auf die vordersten Plätze vor. Allgemein domi­nierten die hitlerhörigen „Deutschen Christen“, während die oppositionelle Liste „Evangelium und Kirche“ zurückgedrängt wurde und im Gemeindekirchenrat nur noch einen Sitz be­kam.

Allerdings waren sich beide Gruppierungen darin einig, dass der Frohnauer Pfarrer Curt Kuhl abgelöst werden sollte, ein Pfarrer, der nicht nur den „Deutschen Christen“ angehörte, sondern auch Mitglied der NSDAP war. Ihm wurde vorgewor­fen, er handele mehr aus politischen als aus seelsorgerischen Gründen. Man schrieb einen Brief an das Konsistorium, den sowohl Mitglieder des Bruderrats der „Bekennenden Kirche“ unterschrieben als auch Vertreter der „Deutschen Christen“ der Frohnauer Gemeinde. Hans Lesser unterzeichnete ihn als Leiter des Bibelkreises. Daraufhin wurde Licentiatus Dr. Kuhl am 23. 2. 1935 von seinem Amt als Frohnauer Pfarrer beur­laubt. Seine Stelle übernahm der Pfarrer des Invalidenhauses Hermann Tönjes. Die Autorität des neuen Pfarrers wurde von beiden Sei­ten anerkannt; er verhielt sich im so genannten Kir­chenkampf zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Be­kennenden Kirche“ neutral.

In den Akten der Frohnauer „Bekennenden Kirche“ finden sich zwei wichtige Schreiben von Hans Lesser. Am 5. März 1935 hatte er in ironisch-nachsichtigem Ton der Frohnauer Ortsgruppenleitung der NSDAP mitgeteilt, sie möge doch freundlichst davon Kenntnis nehmen, wer die Frohnauer Be­kenntnisgemeinde vertrete und dass er, Hans Lesser, den selb­ständig daneben bestehenden Bibelkreis leite. Unterzeichnet ist der Brief, wie damals üblich, mit „Heil Hitler“.

Am 30. Mai 1936 hatte Hans Lesser in einem Schreiben an den Bruderrat darum gebeten, ihn von der Liste der BK zu streichen. Kritisch merkte er bei dieser Gelegenheit an, man könne „die jährliche oder vierteljährliche Zusammenkunft von Inhabern roter Karten (= Mitgliedskarten) ... nicht als Bekennt­nisgemeinde ansehen.“ Allerdings fügte Lesser hinzu, dass er auch nach dieser Erklärung Mitglied der „Bekennenden Kir­che“ bleibe. Sicher meinte er damit die weiter bestehende gei­stige Verbundenheit – unabhängig von der formalen Zugehö­rigkeit.

Beide Schreiben zeugen von Mut, Selbstbewusstsein und kriti­schem Geist. Wahrscheinlich war Hans Lesser der Auffassung, dass die Frohnauer „Bekennende Kirche“, die ihre Zusammen­künfte in Froh­nauer Privathäusern abhielt, die Lehre Christi nicht kompromisslos ver­trat und nicht kämpferisch ge­nug war, wenn es darum ging, sich mit der NS-Ideologie kritisch ausein­an­derzusetzen. Und sicher fühlte er sich in seiner sich ständig verschlim­mernden Situation als „Rassejude“ im antisemiti­schen NS-Staat auch von der Frohnauer Gemeinde allein gelas­sen. Daher die anklagende Formulierung sei­ner Tochter Ruth, er sei „als geborener Jude von der Gemeinde ‚ausgeschaltet’“ worden.

Aber der obige Satz geht noch weiter: „...und als er nach seiner Emigration aus England nach Frohnau zurückkehrte, wurde er nicht wieder eingegliedert.“ Dr. Ruth Lesser hat lange ge­braucht, bis sie see­lisch in der Lage war, diese Worte zu Papier zu bringen, denn ihr hatte das Leid, das sie in der NS-Zeit hatte erfahren müssen, lange Zeit den Mund verschlossen. Sie war als „Mischling ersten Grades“ 1943 in „Schutzhaft“ genommen und nach einiger Zeit ins Frauen-KZ Ravensbrück eingeliefert worden. Ruth Lesser überlebte die Qualen der Haft und die Strapazen des Todesmarsches kurz vor Kriegsende und konnte schließlich nach Berlin und in ihren Beruf als Lehrerin zu­rückkehren.

Hans Lesser hatte „in letzter Minute“ nach England fliehen können. Dort lebte er in ärmlichen Verhältnissen und be­mühte sich, Judenchristen, denen wie ihm die Flucht ge­lungen war, seelsorgerisch zu betreuen. Vier Jahre nach dem Kriege, also 1949, kehrte er nach Frohnau zurück, todkrank. Nach allem, was geschehen war, hatte er erwartet, mit offenen Ar­men empfangen zu werden. Aber nein, er wurde „nicht wieder eingegliedert“. Wie ist das zu verstehen? Hatte Hans Lesser von den Frohnauern zu viel erwartet in einer Zeit, in der fast jeder mit sich selbst beschäf­tigt war? Es war die Zeit der Blockade und der Luftbrücke, die der Einführung der DM-West in West-Berlin gefolgt war. Das Wirt­schaftswunder steckte allenfalls in den Anfängen; Armut war noch weit verbreitet, auch in Froh­nau. Aber warum ein ehemaliges Gemeindeglied, das sich in der Evangelischen Gemeinde stark engagiert hatte und dem viel Unrecht widerfahren war, nicht mit offenen Armen emp­fangen?

Die beiden Frohnauer Pfarrer jener Zeit, Kurt Karzig und Hermann Ge­hann, gehörten der „Bekennenden Kirche“ an. Sollten sie dem engagierten Christen seinen Austritt aus der BK nachgetragen haben? Eher unwahr­scheinlich. Wollte man das ehemalige Mitglied der kirchlichen Gemein­devertretung, den ehemaligen Leiter des Bibelkreises nicht wieder mit einer wichtigen Aufgabe betrauen? Davon ist allerdings nirgendwo die Rede. Hans Lesser war todkrank, er brauchte Hilfe, seelsor­gerische Zu­wendung. Offenbar fand er nicht, was er suchte. In seiner Not nahm er Zuflucht zur reformierten Kirche, in die er seinerzeit „hineingetauft“ wor­den war.

Der letzte Akt seines Lebensdramas spielte sich im Jahre 1951 auf dem Hermsdorfer Friedhof ab. Seine Tochter Ruth schrieb darüber, dass „das Frohnauer Gemeindeamt sich formell ent­schied, dass am Tage seiner Beerdigung auf dem Hermsdorfer Friedhof durch einen befreundeten Pfarrer, den er sich ge­wünscht hatte, nicht geläutet wurde, wie es sonst üblich ist...“ So steht es in Avigdor Ben-Trojans Buch über die jüdische Spurensuche in Reinickendorf und so hat es Ruth Lesser aus sicherer Quelle erfahren. Sicher ist diese Bemerkung Ausdruck einer grenzenlosen Enttäuschung, die sich vom Vater auf die Tochter übertragen hat.

Auch den inzwischen 81jährigen Richard Lesser aus Karlsruhe lässt diese Aussage nicht ruhen. Er ist der Enkel des Gartendi­rektors Ludwig Lesser. Hans Lesser war also sein Großonkel oder, wenn man so will, sein „Halbgroßonkel“. Spätestens seit Ben-Trojans Spurensuche beschäftigt ihn die Frage, ob man die damalige ablehnende Haltung der Frohnauer Gemeinde durch einen symbolischen Akt kom­pensieren, ob man Hans Lesser etwa beim Totengedenken sozusagen seinen alten Platz in der Ge­meinde zurückgeben könne als Zeichen postumer Versöh­nung. Viele Gemeindeglieder werden in un­serer schnelllebigen Zeit nichts mehr von Hans Lesser wissen. Um so wichtiger ist der Blick zurück in die nicht immer rühmliche Geschichte un­serer Frohnauer Evangelischen Gemeinde.