Die Mongolenschule in Frohnau

Am 5. September 2008 hielt Bundespräsident Horst Köhler in Ulan Bator eine Tischrede. Anlass war ein Staatsbankett, das der mongolische Präsident Nambaryn Enkhbayar und seine Frau Onon Tsolmon für ihn gaben. Er begann seine Rede mit einem historischen Rückblick oder einer Zeitreise, wie sein Redenschreiber das nannte. Köhler wies darauf hin, dass 1926 eine Gruppe Jugendlicher nach Deutschland kam, insgesamt fast fünfzig junge Menschen. Sie sollten in Deutschland und in Frankreich eine längere Ausbildung erhalten und danach bei der Modernisierung der Mongolei helfen. Köhler sprach davon, dass die Europareise für die Jugendlichen „ein gewalti­ger kultureller Schock“ gewesen sein muss.

Das bestätigte auch die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) vom 1. August 1926. In ihrem Bildteil veröffentlichte sie Fotos von denjenigen mongolischen Jugendlichen, die in Frohnau untergekommen waren. In ihrem Hauptteil schrieb sie unter der Überschrift „Eine Mongolenschule in Berlin“, dass die mongolische Regierung aus verschiedenen Schulen des Landes 35 Schüler im Alter von 12 bis 17 Jahren ausgewählt habe, dar­un­ter sechs [eigentlich fünf; Verf.] Mädchen. Ursprünglich wollte man sie für die ersten Monate in verschiedenen Fami­lien unterbringen, doch dann schickte man sie gemeinsam nach Frohnau. Dafür waren zwei Gründe maßgeblich. Die Schüler sollten sich als Gruppe in, wie die DAZ schrieb, „frischer Luft und reizvoller Umgebung allmählich an das eu­ro­päische Klima und an die europäische Umwelt gewöhnen.“ Ein zweiter, nicht unerheblicher Grund war, dass Frohnau durch die dortige gerade gegründete buddhistische Gemeinde „einen orientalischen Einschlag“ bekommen habe.

In Begleitung des damaligen Erziehungsministers Erdenebat­chaan reiste die Schülergruppe über Leningrad (St. Petersburg) nach Berlin-Frohnau. Keiner der Schüler hatte Deutschkennt­nisse, einige konnten Chinesisch oder Russisch. Wären sie bei einzelnen Familien untergebracht worden, hätte ihr Heimweh wohl keine Grenzen gekannt. Einer von ihnen, Dugurjab, ver­kraftete die Umstellung nicht und starb in Frohnau.

So zogen die mongolischen Jugendlichen in das im Jahre 1913 gegründete „Haus Rüdiger“, das spätere „Waldschülerheim“ in der Rauentaler Straße 9. Leiter war Richard Drescher, der an­fangs unter Anna Rüdiger noch als Hauslehrer in dem Heim arbeitete. In diesem  damals einsam im Walde gelegenen Do­mizil wurden sie in die Anfangsgründe der deutschen Sprache eingeweiht (Juni 1926 bis Januar 1927). Die DAZ schrieb dazu: „Der deutsche Unterricht wird von einem speziell für diesen Zweck engagierten Elementarschullehrer erteilt, der in der kur­zen Zeit von zwei Monaten erhebliche Fortschritte bei seinen exotischen Schülern erreicht hat.“ Auffallend sei die Fertigkeit der Schüler in der deutschen Schrift. In der Mongolei waren zu jener Zeit, also 1926, verschiedene Schriftarten verbreitet; erst 1941 führte man dort die heute weithin gebräuchliche kyrilli­sche Schrift ein.

Der Schüler Badarchin schrieb in einem Schulaufsatz: So guckt, lachet, start; und ich habe gedacht die Deutschen sind nie einen Asi­enmensch gesehen. Ich habe dacht nu sind wir ein Deutscher Wan­dermuseum und damals ich ein bischen traurig war ... und damals wir und auch sehr freundlich gewesen.  (zitiert nach Serge Wolff: Mon­golian Educational Venture in Western Europe, 1926-1929, Royal Central Asian Journal 1945/46).

Der Aufenthalt der mongolischen Schüler in Frohnau war al­lerdings nichts völlig Ungewöhnliches. Berlin war nach dem ersten Weltkrieg Anlaufpunkt ver­schiedener junger Asiaten, zum Beispiel von Afghanen, Arabern und Türken. Neu sei al­lerdings gewesen, dass die „Mongolenkolonie“ die erste Ko­lo­nie sei, „ die die Schüler zunächst in geschlossener eigener Schule zusammen hält, eine Einrichtung, die für die Erziehung von Orientalen in Europa von großem Vorteil sein dürfte.“ Neu dürfte auch gewesen sein, dass manche Kinder gerade einmal 12 Jahre alt waren.

Die DAZ war der Meinung, Deutschland und vor allem Berlin seien „prä­destiniert als Vermittlerin westlichen Wissens für die asiatischen Völ­ker.“ Sie schrieb, dass nach der allgemeinen wirtschaftlichen Besse­rung die deutschen Lehrstätten und Bil­dungs­anstalten wieder das Vorkriegsniveau erreicht hätten und daher für die „nach europäischem Wissen drängenden Asia­ten“ einen neuen An­reiz darstellten. Und schließlich sei Berlin für die auf dem Land­wege reisenden Asiaten „die erste Welt­metropole, in der sich dem nach Wissen Suchen­den alles of­fenbart, was im Sinne der Kultur und Zivilisation des Westens bisher geschaffen wurde.“ So ermahnte die DAZ die Behörden und Institutionen, sich stärker für dafür zu engagieren, dass mehr junge Asiaten in Deutschland studierten. „Was Welt­städte wie Paris und London bieten, findet der Fremde gleicher­weise auch in Berlin.“

Die mongolischen Jugendlichen blieben nicht allzu lange in Frohnau, sondern wurden ab Januar 1927 wie geplant auf verschiedene deutsche Städte verteilt, darunter Berlin-Lichterfelde, Leipzig, Wickerdorf, Dixi-Werke in Eisenach und Cottbus. Doch die „Verwaltung der studierenden Mongolen in Deutschland“ behielt ihren Sitz bei, und zwar ebenfalls in der Rauentaler Straße 9. Doch ebenso wenig, wie sie in der Mongolei ihre Mittelschulbildung hatten beenden können, durften sie ihre Weiterbildung in Deutschland (und übrigens auch in Paris) abschließen. Ende 1928 waren der Vorsitzende und andere führende Politiker entmachtet worden, wodurch sich die politische Situation wesentlich verschlechterte. In den Jahren 1929/30 mussten die „deutschen“ und „französischen“ Mongolen in ihre Heimat zurückkehren und wurden dort bald politischer Verfolgung ausgesetzt. Viele von ihnen wurden unter absurden Beschuldigungen (zum Beispiel Spionage) inhaftiert und manche überlebten die Repressalien nicht.

Einige von ihnen aber wurden berühmt, darunter der Drama­tiker und Romancier Namdag, der Maler und Bühnenbildner Namchaizeren oder der Lyriker Nazagdordsh, den Wolff als „the national poet and writer of Mongolia“ bezeichnete. Aller­dings wurde er Mitte der dreißiger Jahre als „Nationalist“ zweimal verhaftet. Er starb 1937, gerade einmal 37 Jahre alt. Über den späteren Romancier Namdag (1911-1984), der nach seinem Frohnau-Aufenthalt mit neun Mitschülern zur Freien Schulgemeinde Wickersdorf (Thüringen) geschickt wurde, steht in einem Brief der Verwaltung der studierenden Mongolen in Deutschland vom 15. 7. 1927 folgendes zu lesen: „Was Ihre Charakteristika unserer Schüler betrifft, so bitten wir Sie, die Schüler Namdag und Namhai ständig anzuspor­nen, zuweilen auch mit gewisser Strenge...“

In der mongolischen Zeitung Ödrijn Sonin vom 17. 11. 2004 ist ein längerer Artikel über die Lehrerin Batsuch, die mit dem Ehrentitel „Bagsch“ bezeichnet und hoch dekoriert wurde. Sie gehörte zu den fünf Mädchen der mongolischen Schülergruppe in Frohnau. Schließlich ist da noch Navaan-Junden, der als Regierungsdolmetscher Karriere machte.

Am 25. 8. 2006 war in der Wochenschrift „der Freitag“ zu le­sen: „So blieb der aus heutiger Sicht durchaus ungewöhnliche Schritt der ehemaligen mongolischen Führung, junge Staats­bürger zur Ausbildung ins westliche Ausland zu schicken, ohne Erfüllung. Was dem ganzen Land von Nutzen sein sollte, wurde vertan.“