Die merkwürdige Rolle des Fritz Tillmann

Als Frohnau sein 25jähriges Bestehen feierte, war die NSDAP am Ruder, und so nimmt es nicht wunder, dass neben dem Reinickendorfer Bezirksbürgermeister Walter Pauls auch der Ortsgruppenleiter Fritz Tillmann zur Jubiläumsschrift einlei­tende Worte schrieb. Er schwärmte vom Aufbauwerk des Füh­rers, in dessen Folge die gewerbliche Arbeit belebt worden sei und sich „Zeichen beginnenden wirtschaftlichen Wieder­aufstiegs“ zeigten. Außerdem äußerte er die Hoffnung, dass „das Werkchen“, also die Jubiläumsschrift, bei den Volksge­nossen „Interesse und Zuneigung ... für unsere schöne Garten­stadt Frohnau“ wachrufen möge. Er unterzeichnete mit dem damals allgemein üblichen Hitlergruß, wobei anzumerken wäre, dass der Bezirksbürgermeister darauf verzichtete.

Fritz Tillmann – diesen Namen verbindet man gemeinhin mit ganz anderen Personen. Am bekanntesten ist wohl der Schau­spieler Fritz Tillmann, den wir aus zahlreichen Kinofilmen kennen. Es gibt aber auch noch den Theologen Fritz Tillmann, den Bonner Professor für Moraltheologie, der 1924 in Bonn das erste deutsche Studentenwerk gründete. Nach ihm ist in der ehemaligen Bundeshauptstadt eine Straße benannt.

Der Frohnauer Ortsgruppenleiter der NSDAP Fritz Tillmann, geboren 14. Februar 1889 in Köln, am 1. Oktober 1931 eingetreten in die NSDAP, löste am 28. Dezember 1932 den Parteigenossen Füllkruß ab. Tillmann wurde im Berliner Adressbuch von 1930 bis 1934 als Di­rektor geführt und ab 1935 als Stadtrat. Er wohnte in der Straße 96, die später den Namen Bieselheider Weg erhielt. Im Hauptberuf war er Tuchfabrikant und quasi ne­benher Reinickendorfer Wirtschaftsstadtrat und ehrenamtlicher Gauwirtschaftsberater.

Dieser Mann, der in die Familie der Fabrikbesitzerin Martha Krech aus dem Edelhofdamm eingeheiratet hatte, war in Frohnau nicht unbedingt beliebt. Zum Beispiel ging er zu seinen Nach­barn und forderte sie auf, der NSDAP beizutreten. Gegen Kriegsende gab es Volkssturmeinheiten, die solche Phanta­sienamen wie „Freikorps Mohnke“ oder„Freikorps Adolf Hit­ler“ trugen. Letzteres wurde im Kampf um Berlin eingesetzt. Von Tillmann wird erzählt, dass er die hiesigen Volkssturman­gehörigen, die eigentlich zum Objektschutz eingesetzt waren, also zum Beispiel Brücken oder Industriebetriebe bewachen sollten, auftrug, Panzergräben am Rande Frohnaus auszuhe­ben.

In letzter Zeit sind zwei Bücher erschienen, in denen der Par­teigenosse Fritz Tillmann eine, wenn auch bescheidene, so doch bemerkenswerte Rolle spielt. Da ist einmal das Buch von Thomas Veszelits: „Die Neckermanns: Licht und Schatten ei­ner deutschen Unternehmerfamilie“, das 2005 im Campus Verlag erschien. Zum anderen veröffentlichte im Jahre 2009 der Heyne Verlag das Buch von Steffen Radlmaier: „Die Joel-Story. Billy Joel und seine deutsch-jüdische Familienge­schichte“, beziehungsweise: „The Billy Joel Story. An Interna­tional Star and his German Jewish Family History.“  

Was haben diese beiden Bücher nun mit Fritz Tillmann zu tun? Es ist weithin bekannt, dass Josef Neckermann, der Sohn eines Kohlenhändlers, seine Firma nur gründen konnte, weil er in der NS-Zeit unter anderem das Versandunternehmen von Karl Amson Joel „arisierte“, also dem zum Verkauf gezwunge­nen Juden für wenig Geld abkaufte. Karl Joel hatte seit 1928 aus bescheidenen Anfängen in Nürnberg ein Wäsche- und Konfektionshaus aufgebaut, das neben Witt Weiden, Quelle und Schöpflin zu den Großen der Branche gehörte.

In Nürnberg, in der NS-Zeit Stadt der „Reichsparteitage des Deutschen Volkes“, hatte Joel unter den Attacken des berüch­tigten SA-Frankenführers und Gauleiters Julius Streicher zu leiden, der in seinem Hetzblatt „Der Stürmer“ geschworen hatte, „der Schlange Alljuda den Kopf zu zertreten.“ So ent­schloss sich Joel im Jahre 1934, sein Geschäft nach Berlin zu verlegen, wo ihm ein gemäßigteres politisches Klima zu herr­schen schien. Und hier tritt Fritz Tillmann auf den Plan. Ves­zelits beschreibt ihn als einen Mann, „der vorgab, die Interes­sen der Textilbranche nach bestem Wissen und Gewissen zu vertreten.“ Mit Hilfe dieses Parteigenossen gelang es Joel, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Seinen Umzug nach Berlin bereute Karl Joel zunächst nicht. Sein Monatsumsatz betrug bis 1937 eine Million Reichsmark. Doch nach und nach setzten Repressalien ein. Zunächst muss­ten so genannte Arier in die Geschäftsleitung des jüdischen Unternehmens aufgenommen werden, dann boykottierten arische Zulieferer die Firma, die ihre Pakete mit einem „J“ kennzeichnen musste und nicht mehr in Zeitungen inserieren durfte. Als schließlich am 26. April 1938 eine „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden über 5000 Reichsmark“ und die „Arisierung jüdischer Wirtschaftsbe­triebe“ beschlossen wurde, wusste Joel keinen Ausweg mehr. Er entschloss sich, sein Unternehmen zu verkaufen.

Auch hierbei spielte Fritz Tillmann eine Rolle. Joel vertraute seinem Fürsprecher und beauftragte ihn, heimlich Verhand­lungen über den Verkauf zu führen. Weshalb die Wahl auf Neckermann fiel, der einer von ungefähr 15 Bewerbern war, lässt sich laut Veszelits nicht mehr zu ermitteln. Jetzt jedenfalls bekam Tillmann die Rolle eines Vermittlers zwischen Josef Neckermann und Karl Joel. Der Vertrag, der zwischen dem „arischen Bevollmächtigten“ der Firma und Josef Neckermann vereinbart und der in Joels Villa in Charlottenburg unter­schrieben wurde, war von Tillmann aufgesetzt in allen Sachfra­gen überprüft worden.

Als Kaufpreis wurden lächerliche 2,3 Millionen Reichsmark ausgehandelt. Davon zog Neckermann „vereinbarungsgemäß“ nicht nur Verbindlichkeiten und Lieferantenverpflichtungen ab, sondern auch noch weitere 500 000 Reichsmark „als Si­cherheit für eventuell noch bestehende Verbindlichkeiten und Lieferantenverpflichtungen der Firma Joel“. Der Rest des Kaufpreises von 1,14 Millionen Reichsmark landete nicht etwa bei Karl Joel, sondern auf einem Treuhandkonto beim Bank­haus Hardy &  Co. in Berlin. Joel war inzwischen unter Le­bensgefahr in die Schweiz geflüchtet, und so wurde ihm als „Devisenausländer“ die Auszahlung verweigert. Aus der Schweiz flüchtete der Kaufmann weiter über Frankreich und England nach Kuba. Von dort gelang es ihm nach längerer Zeit endlich, in die USA einzureisen, wo er wieder ganz von vorn anfing. Er eröffnete mit seiner Frau Meta in New York ein kleines Geschäft und verkaufte selbst hergestellte Haarschlei­fen. Erst im Jahre1955 erhielt Joel in einem Vergleich von der Neckermann-Versand KG eine Entschädigung von 2 000 000 DM.

Der Zweite, der über Fritz Tillmann berichtete, war, wie er­wähnt, Steffen Radlmaier. Der Nürnberger Autor und Musik­kritiker veröffentlichte im April 2009 sein Buch über den 1949 in New York geborenen Sänger, Pianisten und Songschreiber Billy Joel. Er ist der Sohn von Helmut Joel, der noch in Nürn­berg geboren wurde und mit seinen Eltern Karl Amson und Meta Joel aus NS-Deutschland in die USA geflüchtet war. Radlmaier beschreibt in der Familiengeschichte der Joels, wie Julius Streicher, den er als Hitlers Vertrauten bezeichnet, es mit Hilfe des „Stürmers“ zuwege brachte, den erfolgreichen Kaufmann mit erfundenen Skandalgeschichten zu peinigen. Streicher nannte ihn den „Nürnberger Wäschejuden“ und be­hauptete unter anderem, Joel, der „Vollblutjude“, habe seinen Handelsvertretern befohlen, den Kunden sein Geschäft als deutsch vorzugaukeln, was dazu führe, dass leichtgläubige Deutsche darauf hineinfielen und der Jude gute Geschäfte ma­che, sogar mit Partei- und SA-Leuten. „Wir hoffen und wün­schen, dass der Jude Joel bald die Gelegenheit verliert, über die ‚Goyim’ zu lachen und zu spotten.“

Weiter schreibt Radlmaier, Joel sei 1934 in die Hauptstadt ge­reist und habe dort vom Textilfabrikanten Tillmann Informa­tionen erhalten über die Möglichkeit, sein Geschäft von Nürn­berg nach Berlin zu verlegen. Tillmann habe dann mit dem Nürnberger Bürgermeister Willy Liebel und mit Julius Strei­cher verhandelt. Er habe sogar erreicht, dass Joel nach drei Festnahmen jedes Mal wieder innerhalb von Tagen auf freien Fuß gesetzt wurde.

Als Ergebnis dieser Verhandlungen habe Joel erstaunlicher­weise die Erlaubnis erhalten, sein florierendes Geschäft in den Berliner Wedding zu verlegen, wahrscheinlich gegen Streichers Willen, aber wohl unter dem Einfluss von Hermann Göring, zu dem Tillmann gute Beziehungen hatte. Göring, Reichsmini­ster der Luftfahrt beziehungsweise der Luftwaffe,  wurde 1936 zum Leiter des Vierjahresplans ernannt. Von ihm wird gesagt, er habe anfangs in der Wirtschaftspolitik taktiert, und so habe er, zumindest zunächst, darüber hinweggesehen, dass der er­folgreiche Kaufmann Jude war. Seine Näherei musste Joel al­lerdings in Nürnberg belassen.

Auch andere Medien beschäftigten sich mit dem Schicksal der Familie Joel. In dem Fernseh-Dokumentarfilm „Die Akte Joel“, der 2001 auf dem Filmfestival von Montreux die Goldene Rose erhielt, holte die Filmemacherin Beate Thalberg die En­kel von Karl Joel und Josef Neckermann an einen Tisch. Von ihnen wurde berichtet, sie wollten zwar nicht vergessen, aber auch nicht mehr hassen. Der ehemalige Frohnauer NSDAP-Ortsgruppenleiter scheint in der Versenkung verschwunden zu sein. Allenfalls wird er in Zusammenhang mit der „Billy-Joel-Story“ erwähnt, unter anderem in der ungarischen Zeitung Népszbadság-Online vom 2. August 2009: Fritz Tillmann textil­kereskedő és nácipárt-tag révén kapcsolatba lépett Hermann Göring­gel.“ Auf deutsch: „Fritz Tillmann, ein Textilhändler, trat mit Hilfe der Nazipartei mit Hermann Göring in Verbindung.“ Weiter heißt es in der ungarischen Zeitung: „Der Reichsluft­waffenminister (Hermann Göring), der die wirtschaftlichen Angelegenheiten aufmerksam beobachtete, machte auch Joel dasselbe teuflische Angebot wie vielen anderen jüdischen Ge­schäftsleuten: Er solle seine Firma nach Berlin verlegen und einen Arier als Partner nehmen, dann könne er sich sicher füh­len.“

Wo Fritz Tillmann nach dem Krieg abgeblieben ist, war bisher nicht zu ermitteln.