Das ungewöhnliche Schicksal des Hans Keilhack

Geht man auf dem Frohnauer Friedhof an der Grabreihe der Abteilung IX entlang, die parallel zum Speerweg verläuft, so stößt man auf zwei Gräber mit dem Namen Keilhack. Das rechte der beiden verrät durch seine ausführliche Aufschrift viel über das ungewöhnliche Schicksal von Hans Keilhack. Es ist eigentlich ein Familiengrab, in dessen Stein vier Namen eingemeißelt sind. Doch nur zwei Mitglieder der Familie sind dort bestattet, die Mutter Ilse und der Sohn Frank. Der jüngste Sohn Hans-Ingo starb als Soldat in Reil an der Mosel und der Vater Hans im Lager Ketschendorf, einem so genannten Spezi­allager der sowjetischen Besatzungsmacht bei Fürsten­walde/Spree.

Aber das ist nicht alles. Sieht man sich die Sterbedaten an, so wird klar, dass die beiden Söhne Frank und Hans-Ingo noch vor ihren Eltern starben, nämlich 1937 und 1945. Frank war erst 16 Jahre alt, als er an einer Blutvergiftung starb, und der Soldat Hans-Ingo wurde nicht älter als 19 Jahre. Der älteste Sohn, der 1919 geborene Harald, ist das einzige Familienmit­glied, das noch lebt, und zwar im elterlichen Haus im Speer­weg. Die Mutter Ilse ist immerhin 94 Jahre alt geworden.

Hans Keilhacks Eltern sind im linken der beiden Gräber be­stattet. Der Vater Konrad Keilhack hat es zu einiger Berühmt­heit gebracht. Er war als Professor und Geheimer Bergrat Mit­glied der Preußischen Geologischen Landesanstalt. Wer da­mals Geologie studierte, kam um die Lektüre seiner Fachartikel nicht herum. Besonders bekannt war sein „Lehrbuch der prak­tischen Geologie“ von 1896; es wurde sogar ins Russische und ins Spanische übersetzt. Konrad Keilhack kam bei einem Luft­angriff in Berlin am 10. März 1944 ums Leben.

Eines erscheint merkwürdig. Während Vater Konrad sich mit der Geologie deutscher Landschaften beschäftigte, zog es sei­nen 1892 geborenen Sohn Hans zur See. Mit achtzehn Jahren trat er als Kadett der Kaiserlichen Marine in Wilhelmshaven seinen Dienst an. Er diente dort und in Kiel und arbeitete sich hoch zum Artillerie-Offizier. Sein letztes Schiff war die SMS Leipzig, die zum deutschen Ostasiengeschwader unter Admiral Graf Spee gehörte. Nach Graf Spee war, wie Frohnauer wissen, die heutige Gollanczstraße bis 1935 benannt.

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs war Spees Geschwader zu­nächst erfolgreich. Im Seegefecht vom 1. November 1914 im Pazifik vor der chilenischen Stadt Coronel versenkten die Deutschen mehrere britische Kriegsschiffe. Doch dann, am 8. Dezember 1914, wurde das kaiserliche Geschwader im Atlantik vor den Falklandinseln mit Ausnahme der SMS Dresden von britischen Schlachtschiffen vernichtet. Das Flaggschiff SMS Scharnhorst ging mit Admiral Spee und der gesamten Besat­zung von 860 Mann unter. Auch der Kleine Kreuzer Leipzig sank nach langem Gefecht; von ihm wurden knapp zwei Dut­zend Seeleute gerettet, darunter der Artillerie-Offizier Hans Keilhack.

Keilhack wurde von den Briten nach England gebracht und in Donington Hall interniert, einem Kriegsgefangenenlager für Offiziere in der Nähe der Stadt Derby. Das Lager galt als aus­bruchssicher, doch Keilhack gelang zweimal die Flucht. Nachdem die erste Flucht mit seiner Festnahme und dem Rücktransport nach Donington Hall geendet hatte, entwischte er ein zweites Mal mit Hilfe von Nachschlüsseln, die er sich aus Konservenbüchsen gebastelt hatte. Doch bis nach Deutschland kam er nicht, sondern wurde bis 1919 in Holland interniert.

Hans Keilhack blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg beim Militär und erhielt verschiedene Land- und Seekommandos, was natürlich zur Folge hatte, dass die inzwischen gegründete Familie des öfteren umziehen musste. Im Jahre 1933 nahm er seinen Abschied im Rang eines Fregattenkapitäns und wandte sich einer anderen Beschäftigung zu, die allerdings mit seiner früheren Tätigkeit als Artillerie-Offizier viel zu tun hatte, näm­lich dem Lafettenbau und dem Bau von Flugzeugkanonen. Er tat sich mit einem anderen Frohnauer zusammen, dem Di­plomingenieur Fritz Heyner aus dem Bieselheider Weg, der 1929 an der Konstruktion des Schienenzeppelins von Franz Kruckenberg beteiligt gewesen war.

Heyner als Theoretiker und Keilhack als Praktiker bauten zu­nächst Holzmodelle, erwarben die Lizenz für verschiedene Pro­dukte der Schweizer Rüstungsfirma Bührle-Oerlikon und ent­wickelten sie weiter, vor allem die 2-cm-Flügelkanonen, deren Geschosse nicht mehr auf einer Trommel untergebracht wur­den, sondern auf einem Gurt, der eine erheblich größere Ge­schossmenge und damit eine längere Kampftätigkeit erlaubte. Da die Firma Oerlikon an der deutschen Aufrüstung mit ver­dienen wollte, gründete sie in Berlin (Lothringer Straße 16) am 20. April 1934 eine Tochtergesellschaft mit Namen Ikaria, Ge­sellschaft für Flugzeugzubehör m.b.H. Oerlikon besaß das größte Aktienpaket der Firma, das von dem deutschen Dr. Heinz Hememeyer treuhänderisch verwaltet wurde. Mit je ei­nem weiteren Aktienpaket beteiligten sich an der Firmengrün­dung das Heereswaffenamt (Treuhänder Dr. Tepe) und das Reichsluftfahrtministerium (Treuhänder Hans Keilhack).

Am 1. Juli 1936 verlegte die Ikaria ihren Firmensitz auf ein Gelände zwischen den Städten Hennigsdorf und Velten. Ge­schäftsführender Gesellschafter und Betriebsführer wurde Hans Keilhack; Fritz Heyner arbeitete in dem Unternehmen als Prokurist. Die Rüstungsbetriebe bei Velten beschäftigten Tausende von Arbeitern. Anfangs wurden diese Arbeiter mit Bussen zu ihren Werken gebracht, später finanzierten die Ar­beitgeber einen neuen S-Bahnhof, der den Namen Hohen­schöpping erhielt.

Bei Kriegsbeginn wurden die Ikaria-Werke erweitert. Es wur­den mehrere Fertigungshallen sowie Büro- und Nebengebäude gebaut. Ende 1940 trat die Velma (Veltener Maschinenbau GmbH) als Gesellschafter in die Ikaria-Werke ein. Hans Keil­hack erwarb Anteile an dem Unternehmen und wurde schließ­lich alleiniger Gesellschafter der Velma. Auch deren Produk­tion wurde jetzt auf die Konstruktion und Fertigung von Flug­zeugzubehör aller Art ausgerichtet. Vor allem wurden die Bomber und Jäger der Firmen Heinkel und Messerschmidt mit Bordwaffen und den in Berlin hergestellten Flugzeugkanzeln aus Plexiglas („Ikaria-Kuppel“) bestückt.

Angesichts der Tatsache, dass im Verlaufe des Krieges immer größere Teile der Belegschaft zur Wehrmacht eingezogen wur­den, wies man den Ikaria-Werken wie im Allgemeinen der Rü­stungsindustrie so genannte Fremdarbeiter beziehungsweise Ostarbeiter und später auch KZ-Häftlinge zu. Für sie wurden auf dem Firmengelände drei Barackenlager gebaut. Außerdem wurden junge deutsche Frauen, wie die Tochter der Wirtsleute vom nahegelegenen „Gasthaus zum weißen Schwan“, Hilde­gard Bildt, zur Arbeit in den (Lehr-)Werkstätten kriegsdienst­verpflichtet. Die Zusammenarbeit mit der Schweizer Firma Oerlikon ging übrigens bis 1944 weiter. So lieferte Oerlikon zum Beispiel Waffenläufe, Verschlussgehäuse, Verriegelungen sowie kleinteilige Ergänzungen für die 2-Zentimeter-Waffe. Außerdem wurden Werkzeugmaschinen mitten im Krieg nach Deutschland zur deutschen Tochter geschafft.

Nach dem Krieg wurden die Veltener Rüstungsbetriebe von den Sowjets demontiert, allerdings in einer Weise, die eher der Zerstörung als der Wiederverwendung zu dienen schien. So wurden die Maschinen nicht von ihren Fundamenten abge­schraubt, sondern unsachgemäß abgesägt. Hans Keilhack  wurde – wie die arbeitsfähige deutsche Bevölkerung nach Kriegsende allgemein – zum Arbeitseinsatz verpflichtet. Im Verlauf dieser Tätigkeit beorderte man ihn in den Wald bei Hennigsdorf  mit der Anweisung, von dort Holz zu holen. Das geschah zweimal. Beim zweiten Mal kehrte er nicht mehr nach Hause zurück. Wie die Familie später erfuhr, war er von den Sowjets verhaftet und in das sowjetische „Speziallager Nr. 5“ in Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree verschleppt worden.

Das „Speziallager Nr. 5“ war ein Konzentrationslager der So­wjetischen Besatzungsmacht, das von der Roten Armee und dem Geheimdienst NKWD geleitet wurde. Es bestand von 1945 bis 1947. Heute ist es eine Gedenkstätte, in der der circa 4000 Gefangenen gedacht wird, die dort verhungerten oder an Mangelkrankheiten starben. In dem Lager sollen bis zu 18 000 deutsche Zivilisten und Kriegsgefangene untergebracht gewesen sein.

Auf dem Grabstein der Familie Keilhack ist als Sterbedatum für den Fregattenkapitän a. D. und Betriebsführer der 2. März 1946 angegeben. Sein Sohn Harald weiß nicht genau, welches der Sterbetag war. Es ist ein geschätztes Datum, denn die Aus­kunft, die der Sohn in den fünfziger Jahren vom zentralen Ber­liner Standesamt I über den vermissten Vater erhielt, lautete: März 1946. Ein einziges Mal hatte Harald Keilhack Nachricht von seinem Vater aus der Haft bekommen. Die überbrachte der ehemalige Sicherheitschef der Ikaria-Werke Stöhr nach seiner Rückkehr aus Ketschendorf. Aber was man Hans Keil­hack konkret vorgeworfen hatte, war weder von Stöhr noch von der Vermisstenstelle des Standesamtes zu erfahren.