Das Frohnauer Glockenspiel
Als im September und Oktober 2010 die Orgel der Frohnauer Johanneskirche generalüberholt wurde, fand sich bei Aufräumarbeiten in dem Nebenraum, in dem der Hauptblasebalg mit dem schönen Namen Ventus untergebracht ist, eine Kiste mit einer Reihe vielversprechender Aktenordner und mehrere Mappen mit Bauzeichnungen von Kirchen. Nun, die Akten und die Zeichnungen waren keineswegs unbekannt, doch sie waren längere Zeit aus dem Blick geraten.
Einer der Ordner enthielt das „Wettbewerb-Ausschreiben der evangelischen Kirchengemeinde Frohnau“, das im Laufe des Jahres 1930 mehrfach geändert worden war und das, wie sich den Akten entnehmen lässt, am 12. September des Jahres seine endgültige Form erhalten hatte. Kurz danach, am 24. September, wurde in den Fachzeitschriften „Zentralblatt der Bauverwaltung“ und „Deutsche Bauzeitung“ auf diese Ausschreibung hingewiesen. Wer teilnehmen wollte, musste nicht nur Architekt sein, sondern auch evangelischen Bekenntnisses und in Groß-Berlin wohnhaft. Außerdem musste er in den letzten zwanzig Jahren eine Kirche gebaut oder wenigstens in einem entsprechenden Wettbewerb einen Preis erhalten haben.
Der Grund, warum die Ausschreibung mehrfach geändert worden war, lag wohl darin, dass er in mehreren Sitzungen des Gemeindekirchenrats ausgiebig diskutiert worden war. Entsprechend den Grundsätzen des „Bundes Deutscher Architekten“ wurde das Preisgericht aus Fachleuten und Laien zusammengesetzt. Zu den Letzteren gehörten Herbert Worch, der nicht nur Generaldirektor der Versicherungsgesellschaft „Deutscher Herold“ und Besitzer des Baugrundstücks am Cecilienplatz (Zeltinger Platz), sondern auch Mitglied des Gemeindekirchenrats war, und die Kaufleute Hentschel und Klapper als Mitglieder der Gemeindevertretung. Natürlich war auch Dr. Curt Kuhl dabei, der damalige Pfarrer der evangelischen Gemeinde und Initiator des Kirchenneubaus.
Dr. Kuhl hatte schon in der ersten Ausgabe des von ihm herausgegebenen „Frohnauer Kirchenblatts“ zu Ostern 1929 für einen Neubau plädiert. Er hatte geschrieben: „Mag zurzeit unser Gotteshaus für die Gottesdienste und Amtshandlungen voll ausreichen, so ist doch mit einer Weiterentwicklung und einem Bevölkerungszuwachs Frohnaus als mit etwas Selbstverständlichen zu rechnen. Dann wird über kurz oder lang die Frage nach einem Kirchenneubau an Stelle unserer jetzigen Notkirche brennend werden.“ Was meist etwas abfällig als „Notkirche“ bezeichnet wurde, war nichts anderes als die 1921 zu einem Gotteshaus umgebaute ehemalige Turnhalle in der Lichtensteinallee (Senheimer Straße), in der heute die St. Hildegard-Kirche der Frohnauer katholischen Gemeinde beheimatet ist. Während ihrer evangelischen Zeit hieß sie übrigens von Anfang an Johanneskirche. Die heutige Kirche am Zeltinger Platz ist also die zweite dieses Namens in Frohnau.
Nicht weniger als 91 Architekten reichten ihre Arbeiten ein, vier Preise wurden vergeben (zweimal der erste Preis) und vier weitere Entwürfe zum Ankauf empfohlen, darunter der von Walter und Johannes Krüger. Gebaut wurde allerdings zunächst einmal nicht. Der evangelische Oberkirchenrat, die damalige oberste Kirchenbehörde, hatte nämlich wegen der angespannten finanziellen Situation bis 1934 einen Baustopp verfügt. Trotzdem machte man sich in den Frohnauer kirchlichen Gremien weiter Gedanken über den Bau des neuen Gotteshauses. Merkwürdigerweise wurde man sich 1931 darin einig, keinen der prämierten Entwürfe zu verwirklichen.
Stattdessen entschied man sich für den Wettbewerbsbeitrag der Brüder Krüger. (Vgl. Kapitel 6) Im Jahre 1931 hatten die beiden Architekten damit begonnen, die so genannten Torbauten am Eingang zum Cecilienplatz zu errichten. Es waren die ersten Bauten an diesem Platz, und damit waren die Würfel gefallen. Die Torbauten sollten zum Vorbild für die weitere Randbebauung werden, und was lag da näher, als den Krügers, die sich ja schon mit dem Bau des Tannenberg-Ehrenmals einen Namen gemacht hatten, den Auftrag für den Bau der neuen Johanneskirche zu erteilen?
So erhielt Frohnau in den Jahren 1935/36 ein Gotteshaus, das durch seinen mächtigen Westbau auffällt, der die Funktion eines Kirchturms erhielt. Genau genommen entsprach der Entwurf nicht mehr ganz den Forderungen, die das Preisgericht im Jahre 1930 gestellt hatte. Zu den Forderungen gehörten ein Kirchenschiff mit 500 festen und 150 Notplätzen sowie eine Empore mit 150 Plätzen für einen Chor und ein Orchester. Außerdem sollten die Architekten nicht nur ein Pfarrgebäude projektieren, sondern auch noch bauliche Voraussetzungen für ein zweites schaffen. Offensichtlich erwartete Pfarrer Kuhl ein so starkes Anwachsen der Gemeinde, dass eine zweite Pfarrstelle unumgänglich sein würde.
In dem Kirchenschiff der Johanneskirche 500 Menschen und auf der Empore 150 Sänger und Instrumentalisten unterzubringen, dürfte ziemlich schwerfallen. Und Notplätze, wie sie zu den Christvespern am Heiligen Abend durchaus gebraucht werden, erhält man nur dadurch, dass man die Türen der Vorräume öffnet und Stühle in Richtung des Altarraums aufstellt. Die Vorräume sind übrigens wie auch die Empore mit der Orgel im Turm untergebracht. Vorsorge für ein zweites Pfarrgebäude ist nicht getroffen worden, obwohl der Bedarf abzusehen war. Schon kurz nach dem Kriege wurde eine zweite und nicht viel später eine dritte Pfarrstelle eingerichtet. So bleibt den Geistlichen – mit Ausnahme des Inhabers der ersten Pfarrstelle – nichts anderes übrig, als sich in der Umgebung eine Wohnung zu suchen.
Das sind aber eher Aspekte, die nicht weiter auffallen. Die größten Unterschiede zwischen den Forderungen der Ausschreibung und ihrer Realisierung beziehen sich auf den Turm. In ihm sind, wie gesagt, unter anderem die Empore und die Vorräume untergebracht. In der Ausschreibung heißt es dagegen: „... ausserdem ist in ihm eine Wohnung von 2 Zimmern und kleiner Küche für eine Gemeindeschwester vorzusehen.“ Etwas weiter unten liest man: „Eine Kirchendienerwohnung soll 3 Zimmer, Küche, Bad und Nebenräume enthalten. Es wird freigestellt, ob sie im Kirchturm untergebracht wird, in einem besonderen Anbau oder im Untergeschoss...“ Also auch noch der Kirchendiener hätte unter Umständen in den Turm ziehen müssen. Anscheinend hatte man einen Faktor völlig übersehen: das Glockengeläut. Kein Wunder, dass einer der Architekten in dem „Erläuterungsbericht“ zu seinem Entwurf schrieb: „Mit Absicht ist darauf verzichtet, die Wohnung der Schwester und des Kirchendieners im Turm zu projektieren, da solche Turmwohnungen durch das Glockengeläut sehr gestört werden.“
Dass man das Glockengeläut bei der Planung der beiden Wohnungen außer acht gelassen hatte, ist umso erstaunlicher, als eine der Forderungen der Ausschreibung lautete: „Der Turm soll Raum für ein grosses Geläut (mit Glockenspiel) mit elektrischem Antrieb bieten...“ Also nicht nur ein großes Geläut sollte im Turm untergebracht werden können. Dieser Forderung sind die Architekten Krüger immerhin nachgekommen. Schließlich hingen im Turm bis 1942 und ab 1957 wieder vier große Bronzeglocken, deren Klang weithin zu hören ist. Aber im Gegensatz zu anderen Architekten haben sie kein Glockenspiel vorgesehen. Jedenfalls lässt sich im Turm kein Raum dafür ausmachen.
In den eingangs erwähnten Mappen, die bei den Aufräumarbeiten im Turm wieder aufgetaucht sind und die etwa zehn Entwürfe für eine neue Johanneskirche enthalten, gibt es durchaus Beispiele dafür, wie die Architekten der Forderung nach einem Glockenspiel nachgekommen sind. Was wäre wohl geschehen, wenn eins dieser Projekte verwirklicht worden wäre? Man kann es sich heute kaum vorstellen, dass zu jeder vollen Stunde vom Kirchturm ein Lied erklingt, etwa „Lobe den Herren“, „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ oder vielleicht eher weltlich: „Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit.“
Nun ja, den Krieg hätte ein Glockenspiel wohl nicht überlebt, denn wahrscheinlich hätten dessen Glöcklein das Schicksal der drei großen Glocken geteilt, die 1942 für die Waffenproduktion abgeholt und eingeschmolzen worden waren. Allerdings hätte man nach dem Krieg ja nicht nur die großen, sondern auch die kleinen Glocken neu gießen lassen können, sobald sich genug Spender gefunden hätten. Doch das sind Spekulationen. Die Frohnauer haben sich so an ihre Johanneskirche und die Klinkerbauten rund um den Zeltinger Platz gewöhnt, dass sie wohl keinen Anlass sehen, sich mit irgendwelchen Alternativen auseinanderzusetzen.